Montag, 10. September 2007

Die Psychologie eines 30-Kilometerlaufes

Für mich ist ein Lauf über 30 Km immer noch etwas ganz Besonderes. Es ist irrsinnig lang und sehr anstrengend. Freiwillig würde ich das nicht machen. Aber da ich Ende des Monats den Marathon schaffen will habe ich keine Wahl. Am Sonntag stand wieder einer auf dem Programm. 31,5 Km, wie am Sonntag zuvor. Am Samstag hieß es ordentlich Kohlenhydrate zu sammeln: extra große Portion Müsli, Bananen, Weintrauben und leider auch Kekse und Schokolade. Sonntagmorgen um 6 Uhr: Aufstehen, noch nicht laufen, erst was essen. Eigentlich krieg ich um die Zeit nichts runter. Doch die Erfahrung vom Sonntag davor hat mich eines Besseren belehrt. Nur mit Wasser sind 30 Km noch länger. Also runter mit zwei Marmeladenbroten und einer Banane. Mehr geht nicht um diese Zeit. Noch ein Experiment. Ich genehmige mir eine Tasse Kaffee. Vor dem Laufen habe ich das noch nie riskiert. Da ich nicht sofort nach diesem „Frühstück“ laufen will, lege ich mich noch einmal auf die Couch. Lange halte ich es aber nicht aus. Ich mache mich startklar. Kurz vor acht bin ich auf der Strecke. 10 Runden a 3,15 Km. Ich achte auf den Puls und laufe langsam. Wenigsten 2 Stunden lang soll der Puls niedrig bleiben. Ich habe Zeit. Zeit zum Nachdenken. Aber ich bin zu sehr auf das Laufen konzentriert. Eigentlich ist es ja ganz einfach: rechter Fuß, linker Fuß, rechter Fuß …. Aber im Kopf geistern die 30 Km rum. Letzten Sonntag war ich so kaputt. Könnte ich doch schneller laufen. Dann brauchte ich keine vier Stunden. Eine Stunde zu laufen ist nichts. Auch zwei Stunden schaffe ich noch „aus dem Stand“, auch wenn es zum Schluss dann doch langsam anstrengend wird. Nach zweieinhalb Stunden kommt dann der Wunsch, dass es bald zu Ende sein möge. Nach mehr als drei Stunden ist der Körper leer. Du denkst es geht nicht mehr. Aber irgendetwas hält dich am Laufen. Was ist es? Sportlicher Ehrgeiz? Bei mir wohl kaum. Das Ziel beim Marathon anzukommen? Ein Ziel zu haben ist wichtig. Es gibt Orientierung. Wie kommt dazu sich so ein Ziel zu setzen? Es ist eine sehr individuell bestimmte Motivation, gespeist aus verschiedenen Töpfen. Marathon verlangt Disziplin, Zähigkeit, Geduld, planvolles Vorgehen und manchmal auch Leidensfähigkeit. Bei dreißig Kilometer ist vor allem Leidensfähigkeit gefragt.

Ich nehme heute kaum was von meiner Umgebung war. Es ist bewölkt, trübe aber wenigstens trocken. Bekannte Gesichter, wie fast jeden Morgen. Eine Frau mit Fahrrad treffe ich, eine alte „Bekannte“ bei meinen langen Läufen. Sie ist immer interessiert. „Wieweit?“ „Dreißig“, rufe ich ihr zu, als ich die „Zehn“ noch nicht geschafft habe.

Diesen Sonntag fühle ich mich besser als eine Woche zuvor. Ob es am Frühstück liegt oder weil ich diese Tortour schon einmal hinter mich gebracht habe. Der Puls bleibt lange unten, ich achte bei meinem „Tempo“ sehr darauf. Die ersten zehn Kilometer laufe ich in 8:05 Minuten pro Kilometer.

Bis zur Hälfte der Strecke bin ich auch sehr diszipliniert und lasse mich weder durch Fußgänger noch durch Hunde beschleunigen. Knapp zwei Stunden unterwegs. Der Puls steigt an. Ganz langsam und nicht beunruhigend. Aber er steigt. Der Körper reagiert. Auf Dauer strengt auch langsames Laufen an.

Ich habe die Hälfte geschafft: 15,750 Km in gut 2:06:24 Stunden, langsamer als vorigen Sonntag. Kurz vor erreichen der Halbzeit beschleunige ich das Tempo. Der Puls lässt sich jetzt eh nicht mehr dauerhaft niedrig halten. Die zweiten zehn Kilometer laufe ich einen Schnitt von 7:40 Minuten pro Kilometer. Nach Kilometer 20 laufe ich noch ein Stück schneller. Der Puls steigt weiter an. Anders als letzten Sonntag greife ich bei Kilometer 22 noch nicht zu Kohlenhydraten in Form eines Powergels. Ein Päckchen habe ich im Gürtel dabei. Aber nicht vor 25 Km, habe ich mir vorgenommen. Das schaffe ich auch. Bei 25 Km nehme ich aber nicht nur kein Powergel. Ich trinke auch nichts. Laufe an mein Auto vorbei, in dem ich einige gefüllte Wasserbecher deponiert habe. Kein gutes Zeichen. Deutliches Zeichen für Erschöpfung. Denn so laufe ich fast 9,5 Km ohne zu trinken. Nach der nächsten und übernächsten Runde trinke ich aber wieder. Auf eine Kohlenhydratzufuhr verzichte ich heut bis zum Schluss. Gut so. Das trainiert die Speicherfähigkeit.

Die Wolkendecke ist dünner geworden. Sogar die Sonne lässt sich kurz blicken. Es ist auch etwas wärmer geworden. Kein Wunder. Es geht auf Mittag zu. Wie lange laufe ich eigentlich schon? Ich weiß es genau. Ich trage meine Armbanduhr und meinen Pulsmesser. Aber dieser Lauf dauert unendlich. Ich muss verrückt sein oder so was in der Richtung. Ich glaube es ist mein letzter Marathon, den ich angehe. Diese Schinderei. Gesund ist das auch nicht. Ein Stündchen zu laufen, vielleicht dreimal die Woche, das ist gut. Warum läuft man eigentlich, wenn es konkret nicht gesund ist. Nicht gesund ist aber was anderes als ungesund. Laufsucht? Quatsch! Und wenn schon, wenn ich die Bierflaschen in den Abfallbehältern entlang meiner Strecke sehe, dann ist Sucht doch wohl was anderes. Ich könnte sofort aufhören zu laufen. Aber warum eigentlich? Ich laufe weiter. Aufzuhören wäre idiotisch. Gleich habe ich die „30“. Bin ich kaputt. Wenn ich mich nicht konzentriere dann laufe ich unrund; kein Torkeln, aber ich muss aufpassen und mich zusammenreißen. Die dritten „Zehn“. 7:21 Min pro Kilometer. Noch 1,5 Km. Ein drittes Mal treffe ich heute auf die Frau mit Fahrrad und Hund. Jetzt ohne Fahrrad und Hund, dafür mit zwei Kindern. Sie kommen aus der Kirche. Ihr Sohn läuft auch Marathon. Hatte sie mir heute beim Zweiten Mal zugerufen. Sie sieht mir jetzt die Strapazen wohl an. „Letzte Runde“, gebe ich zur Entwarnung. Ich versuche mein Gesicht zu entspannen. „Auf der Zielgeraden musst du ein freundliches Gesicht machen, da wird fotografiert“, sage ich mir und denke an den Marathon in 3 Wochen. Dann bin ich durch, 31,5 Km. Genau 4:03 Stunden. Anstrengend, aber besser als letzten Sonntag. Das sagt auch meine Pulsuhr mit Stoppuhr. Der Puls ist um 6 Schläge niedriger pro Minute. Dabei bin ich gut 5 Minuten schneller gewesen. Ein Blick in mein Lauftagebuch zu Hause zeigt, dass es mein bisher bester 30-er ist. Es ist der fünfte insgesamt. Endlich schöpfe ich mal wieder Zuversicht. Für den restlichen Sonntag bin ich bedient. Auch heute Morgen, als ich beim Aufstehen schwere Beine spüre. Jetzt geht es aber schon wieder gut. Kein Muskelkater, fast keiner. Morgen geht’s weiter. Aber nur 50 Minuten, ein kleiner Regenerationslauf. Das ist fast nichts. Am Sonntag dann wieder und ein letztes Mal vor dem Marathon diese Gewalttour von 30 Km und mehr. Aber das möchte ich mir jetzt lieber nicht vorstellen.

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