Montag, 6. Oktober 2014

Berlin-Marathon 2014 - Die Rückkehr



Die Entfernung zwischen Siegessäule und Brandenburger Tor beträgt 42,195 Kilometer, jedenfalls wenn man den Berlin-Marathon mitläuft. Wer da eine kürzere Distanz festgestellt hat, muss eine Abkürzung genommen haben. Ja, es ist Wirklichkeit: ich bin zum neunten Mal Marathon gelaufen. Der erste nach gut drei Jahren Pause.

Drei Wochen zuvor im Wartesaal beim Orthopäden. Starke Schmerzen im Fuß nach dem langen Lauf am Sonntag. Spreizfuß,  Überlastung oder mehr? Der Arzt, früher mal selbst Marathon gelaufen, gibt Entwarnung. Notfalls sollte ich mich nicht scheuen. Maßvolles Täglichlaufen findet er übrigens besser als Marathon zu laufen.

Abreise nach Berlin. Die Deutsche Bahn unternimmt  einen ernsthaften Versuch die Reise nach Berlin zu verhindern, Nachts um drei Uhr. 30 Minuten Verspätung sind angekündigt, dann 40, 45 und 60 Minuten. Dann rollt der Zug mit 65 minütiger Verspätung ein. So gerade noch den Flieger erwischt...

Sonntag Morgen um 9.15 Uhr endlich am Start. Ein stahlblauer wolkenloser Himmel. Die Luft ist noch empfindlich kühl. Das letzte Häuflein eines riesigen Läuferfeldes macht sich auf den langen Weg. Ganz, ganz hinten entbrennt offenbar ein Wettkampf darum, wer als Letztes die Startlinie überquert. Das entnehme ich den Worten des Moderators, der schließlich den  Countdown für das Schließen der Startphase ankündigt. Vor mir strahlt die Gold-Else (Siegessäule) in der Morgensonne. Der Besichtigungslauf durch Berlin hat begonnen. Die Stimmung ist großartig. Ich fühle mich angesteckt und erinnere mich daran langsam zu laufen. Nur wenn ich langsam laufe werde ich auch das Ziel erreichen.

Die Straße des 17. Juni ist durchlaufen; an Alt-Moabit vorbei und nach 5 Kilometern die erste Verpflegungsstation. Trinken ist Pflicht, denn die Sonne wird noch ihren Tribut fordern. Ich habe mir einen Läufer ausgeguckt, der mich "ziehen" muss. Auf seinem Rücken trägt Hartmut die Papiertafel eines Jubiläumsläufers. 34 Mal hat er am Berlinmarathon teilgenommen. Wer so oft  Marathon gelaufen ist, muss einen Plan haben. Das ist jedenfalls meine Hoffnung. Gleichmäßig und nicht zu schnell ist die beste Methode um Kräfte  zu sparen. Hartmut läuft gleichmäßig. Sein Laufstill ist aber eher hölzern. Wie alt mag er sein?

Bundeskanzleramt und Reichstag sind passiert, Die Gebäude sind für die in ihnen produzierten Inhalte nicht verantwortlich. Also einfach weiter laufen. Viele historische Gebäude liegen an der Strecke. Den Fernsehturm kann man nicht übersehen. Er bietet eine grandiose Aussicht. Vor drei Tagen waren wir oben. Von der Siegessäule bis zum Brandenburger Tor ist es nur ein Katzensprung. Doch heute liegen mehr als 40 Kilometer dazwischen. Die ersten 10 davon sind geschafft. Ich bin etwas schneller als in meiner Marschtabelle. Ob es zu schnell war werde ich spätestens 20 Kilometer später wissen. Nach etwas mehr als 12 Km nehme ich zum ersten Mal ein Päckchen PowerGel zu mir. 6 Rationen habe ich dabei. Sie sollen dafür sorgen, dass ich möglichst lange Energie zum Laufen habe. Ich habe das vorher ausprobiert und gute Erfahrungen damit gemacht.

Es geht durch Neukölln und in Richtung Kreuzberg. Die Stimmung an der Strecke  ist hier, wie auch sonst, ganz toll. Trommler, Sambagruppen und diverse Musikgruppen heizen die Stimmung auf. Die Stimmung trägt einen quasi mit. Na ja, laufen muss man aber trotzdem noch. Ein Fuß ach dem anderen, Kilometer um Kilometer. So banal ist es Marathon zu laufen.  Die Kirche Südstern ist in Sichtweite. Erinnerungen an 2007 kommen auf. 2007 habe ich mit dem Marathon angefangen. Vor meinem 55. Geburtstag mit dem Ruhr-Marathon  und Ende September in Berlin. Das damalige Zulaufen auf den imposanten "Südstern" ist mir in Erinnerung geblieben. Und das ich damals nicht meinen besten Tag hatte, weder Stadt noch Stimmung richtig aufsaugen konnte. Heute ist das anders. Ich bin hell wach, nehme Kleinigkeiten wahr und freue mich hier laufen zu können.

Der Jubiläumsläufer Hartmut wird etwas langsamer, Rollentausch, jetzt laufe ich vorneweg. Es geht durch Schöneberg und der Halbmarathon wird passiert. Ich bin nur wenig schneller als nach meinem Plan. Beine und Kopf sind  noch gut dabei. Irgendwo  vor Kilometer 22 bin ich mit Birgit verabredet. Es ist gut jemand an der Strecke zu wissen. Auf der rechten Seite vor mir habe ich sie entdeckt. Fröhliches Winken. "Alles gut" rufe ich noch und es geht weiter. Wenn alles gut geht werden wir uns 16 Kilometer später am Potsdamer Platz wiedersehen. Jetzt bei 22 Kilometer ist es so ziemlich mitten drin im Marathon. Überschüssige Energien gibt es nicht mehr. Und ein Ende ist längst noch nicht in Sicht.

Schöneberg und Wilmersdorf werden passiert. 25 Km sind die nächste Zwischenmarke. Noch geht das mit dem Laufen ganz gut. Doch die Zahl derjenigen, die jetzt Gehpausen einlegen wächst. Inzwischen habe ich auch neue Begleitung. Asterix und Obelix laufen nämlich mit und ernten beim Publikum viel Heiterkeit. Eine makabre Erscheinung läuft, nur mit Lendenschurz bekleidet, barfüßig, mit einem Pappkreuz auf den Rücken.


In meinem Kopf arbeitet es: laufen, laufen, laufen; nicht denken, laufen. An der Verpflegungsstation nach mehr als 28 Kilometer will ich wieder ein Päckchen PowerGel runter würgen. Ich suche im Gürtel und mir fällt - warum auch immer - der Wohnungsschlüssel ein. Den habe ich doch auch irgendwo im Gürtel  verstaut?  Ich bleibe stehen und suche.!!! Ich finde nichts und bin ratlos. Dann kommt die Erleuchtung: weiter laufen. Ich bin hier irgendwo mitten in Berlin, schon 28 Kilometer gelaufen. Wenn der Schlüssel weg ist, dann ist er jetzt weg und kommt auch nicht wieder. Ein paar hundert Meter weiter dämmert es dann. Den Schlüssel habe mit meinem Kleiderbeutel gut verpackt abgegeben. Eine Planänderung. Es bleibt zum Glück der einzigste  Aussetzer des Tages. Gut zwei Minuten Zeit hat mich der Spaß gekostet. Die gute Stimmung kehrt bald wieder zurück. Hinzu kommen jetzt aber langsam schwerer werdende Beine. Ab Kilometer 29 fängt es im rechten Oberschenkel leicht an zu ziehen.  Die 30 Km werden durchlaufen. Und wie heißt es so schön: jetzt fängt der Marathon so richtig an. Die Zahl der Geher im Feld wächst sichtbar an. Ich bin stur und behalte den Laufrhythmus bei. Langsam bin ich trotzdem. 31 Km sind insoweit erwähnenswert, weil ich im Training zuvor nie mehr gelaufen bin. Ich betrete sozusagen Neuland.

Die nächste bleibende touristische Erinnerung sammle ich dann zwischen den Kilometern 33 und 34. Es geht über den Kudamm an die Gedächtniskirche vorbei. Die Stimmung ist gut, die Beine sind schwer. Nach 35 Km an der Tauentzienstrasse  bin ich knapp 3 Minuten schneller als nach meinem Zeitplan. Ich laufe immer noch kontrolliert. Mein Ziel heißt aber schlicht und einfach "ankommen". Und es scheint greifbar. Vielleicht noch eine knappe Stunde. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen. Der Teufel heißt beim Marathon der Mann mit dem Hammer. Der lauert praktisch auf jedem Meter und man weiss nie wann er kommt. Mein rechter Oberschenkel zickt immer stärker herum. Wenn ich an den Verpflegungsstellen gehe, dann ist das Anlaufen danach sehr mühsam. Also das Gehen gar nicht erst zulassen. Laufen, laufen, laufen.

Der Potsdamer Platz kommt in Sichtweite. Doch bis man mal dort ist dauert es eine gefühlte Ewigkeit. Ich halte Ausschau nach rechts und irgendwann gut 20 Meter vor mir entdecke ich Birgit. Freundliches Gesicht machen, sich gute Haltungsnoten  verdienen, freundlich in die Kamera schauen. "Bis gleich."

Bis gleich sind noch läppische 4 Kilometer. Ich sehe die 40 Km-Tafel. Da muss ich hin. Laufen, laufen, immer weiter. Jetzt bin ich aber echt fertig. Als ich die Kilometertafel erreicht habe verfalle ich ins Gehen. Aber das macht es noch länger und leichter wird es auch nicht. Also antraben. Jetzt fällt mir das Konzerthaus am Gendarmenmarkt auf. Sehr schön! Noch schöner: Kilometer 41 wird passiert. Wie lang kann so ein letzter Kilometer sein. Und danach nochmal 200 Meter. Irgendwann gibt es einen energischen Knick der Straße nach links. Vor uns das Brandenburger Tor. Ich bekomme feuchte Augen. Es kommt Bewegung ins Feld. Gehen mag jetzt keiner mehr. "Those were the days my friend" dröhnt es aus den Lautsprechern. Die Stimme des Moderators überschlägt sich. Die Zuschauer rechts und links geben alles und die Läufer auf der Strecke ihr Letztes.

Das Durchlaufen des Brandenburger Tores. Worte reichen nicht aus um diesen Augenblick zu beschreiben. Dann nochmal lange 200 Meter. An die kann ich mich noch aus 2007 erinnern. Die letzten verflixten Meter. Mit schweren Beinen stampfe ich sie über sie hinweg.  Über die Lautsprecher dröhnt jetzt "I love it".

Und dann im Ziel. Dieses Zusammenwirken aus tiefer Erschöpfung und unfassbarer Erleichterung und Freude machen den Marathon aus. Berlin ick liebe dir!
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Es ist blöd und passt so gar nicht an der Stelle: es war mein 434 Lauftag in Serie. Es war zugleich der letzte Lauftag, denn am Tag danach war an Laufen nicht zu denken. Damit hatte ich allerdings auch vorher schon gerechnet. Auf dieses Thema komme ich bei anderer Gelegenheit zurück. Das Täglichlaufen wird seine Wiederbelebung finden.