Allerdings müsste ich lügen, wenn ich nicht doch auch in gewisser Weise zumindest gelegentlich ein Sklave der Zeit und noch schlimmer der Uhr bin. Heute nach der Arbeit brauche ich dringend einen Lauf. Der Druck im Kessel braucht ein Ventil. Abschalten, umschalten durchatmen und durchpusten. Laufen hilft immer. Es ist tolles Laufwetter. Das Thermometer hat einen gewaltigen Satz nach unten gemacht. Fast 10 Grad kühler ist es gegenüber den Vortagen. Dicke Wolken am Himmel verheißen zusätzlich weitere feuchte Abkühlung. Die ersten dicken Tropfen klatschen mir schon ins Gesicht. Meine Laufuhr habe ich auch angeworfen. Als erstes sucht die immer den Satelliten. Heute aber nicht Statt dessen der erklärende Hinweis „schwache Batterie“. Man könnte auch sagen schlechte Organisation. Habe da wohl was übersehen. Jetzt nochmal nach oben und die alte Stoppuhr zum Einsatz bringen? Dazu habe ich keine Lust. Dumm gelaufen eben. Zunächst läuft ja wenigstens die Stoppuhr. Alle anderen Funktionen reagieren nicht. Na ja, die Länge der heutigen Strecke kenne ich. Und habe ich die Laufdauer, dann lässt sich sogar die Geschwindigkeit errechnen. Alles für die insgesamt doch eher profane Statistik. Es kommt aber wie es kommen muss. Die Batterie gibt den Geist völlig auf. Ich laufe und werde nicht wissen, wie lange ich unterwegs bin. Welch ein Läuferdrama. Mir ist`s egal. Jedenfalls versuche ich mir das einzureden. Ich weiß doch wie lang die Strecke ist und werde dann einfach meine „Durchschnittszeit“ eingeben. Frei nach dem Motto: „Glaube keiner Statistik die du nicht selbst gefälscht hast.“
Ich konzentriere mich zwischendurch mal kurz auf`s Laufen. Der Regen hält auch nicht das, was er versprochen hat. Hin und wieder mal ein kurzer Schauer, doch dann verschließen sich die Himmelsschleusen wieder für einige Zeit. Da der Boden noch warm ist herrscht Waschküchenklima. Schweiß tropft aus allen Poren. Ein Eichhörnchen flüchtet auf einen Baum um sofort die mir abgewandte Seite aufzusuchen. Spatzen baden in Pfützen, als hätte sie auf eine solche Gelegenheit schon ewig gewartet.
An Hand meines Atems versuche ich mein Tempo abzuschätzen. Doch wer kann das schon? Doch welche Bedeutung haben ein paar Sekunden mehr oder weniger eigentlich? Was ist das für eine Bewertung „etwas langsamer“ oder „etwas schneller“. Bei dem Gedanken senkt sich mein Blick unwillkürlich auf meine Uhr, die mich aber nur anschweigt. Ich denke an heute Morgen, an das Warten an der Haltestelle.
Ich kenne die Strecke, die ich häufig laufe. An sich kenne ich hier jeden Meter. Aber jeder Lauf ist trotzdem anders. Der heutige sowieso. Gleich sind es nur noch zwei Kilometer. Der Dampf ist jetzt auch aus dem Kessel. Ich fühle mich leichter und beschwingter als vor dem Lauf. Wo ist bloß die Zeit geblieben. Auch ohne laufende Uhr ist sie zerronnen.
Heute genau vor einem Jahr bin ich meinen bis dato letzten Marathon in Münster gelaufen. Das hätte ich vor einem Jahr auch nicht gedacht. Aber das letzte Wort ist ja noch nicht gesprochen.